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"Von Individualität, Kreativität und dem ganzen Rest des pädagogischen Universums"
Liebe ErzieherInnen,
liebe GrundschullehrerInnen
ich muss Sie warnen, dieser Text enthält einen Virus, der hoch infektiös ist: Wissensdurst und wo wir schon dabei sind, eigentlich handelt es sich um einen Cocktail aus Wissensdurst,
Forscherdrang und Aufmerksamkeit für alles und jedes – eine explosive Mischung! Die Infektion erkennt man sofort an ständigen, unaufhörlichen und beharrlichen Fragen,
die einem nicht mehr aus dem Sinn gehen, aber dazu später. Die Krankheit verläuft meist harmlos, schubweise sind Antworten nur Auslöser für immer mehr Fragen – sehr ungewöhnlich – einige Patienten,
besonders die 3 – 6 jährigen, bestehen stur darauf, alle Erfahrungen die mit der Beantwortung von selbst gestellten Fragen zusammen hängen, auch wirklich selbst zu machen.
Aber Spaß bei Seite, oder vielmehr eben nicht, denn genau darum geht es: Weltwissen erwerben, lernen also, wie diese seltsame Welt funktioniert, soll, darf, ja muss Spaß machen,
denn nur das, was wir mit Spaß lernen und selbsttätig erkunden dürfen, ist wirklich dauerhaft abgespeichert und führt sogar zu einer Veränderung unseres Gehirns.
Unser Gehirn lernt und wenn es das tut, greift es auf die nächste Situation mit einem anderen Bewusstsein, einem erweiterten nämlich, zu. Dagegen ist Ihr schnellster und modernster PC ein steinzeitliches Werkzeug,
denn der ist eigentlich ziemlich doof und kann nur das, was ihm die Software vorgibt, aber er lernt nicht durch Benutzung dazu. Stellen Sie sich doch nur vor: die Gehirnforscher haben herausgefunden,
dass ein Kind in den ersten 3 Monaten nach seiner Geburt soviel lernt, wie ein guter Student in 4 Jahren. Ist das nicht atemberaubend und das gilt natürlich für uns alle:
zumindest in den ersten 3 Monaten waren wir alle kleine Genies. Wie es dann weiter geht, das hängt unter anderem sehr davon ab, was wir unseren Kindern an Anregungen in ihrem Umfeld bieten –
schon Maria Montessori spricht von der liebevollen Umfeldvorbereitung - wie viel Selbstvertrauen wir ihnen geben, welches „Futter“ wir für ihren Wissensdurst bereithalten.
Seit dem lesenswerten Buch von Donata Elschenbroich „Weltwissen der Siebenjährigen“ ist in vielen Kitas darüber nachgedacht worden, ob und wie es möglich ist,
den Kindern auch den Bereich der Naturwissenschaften als „Nahrungsergänzung“ für ihren Forscherdrang zu eröffnen. Erstaunt haben viele festgestellt, dass es viel einfacher ist,
als sie es sich vorher vorgestellt haben. Hugo Kükelhaus hat einmal gesagt: „Wir müssen unsere Kinder wieder in Kontakt bringen mit universalen Erscheinungen und zwar dort, wo sie ganz einfach sind.
“ Damit hat der Erfinder des Erfahrungsfeldes zur Entfaltung der Sinne den Nagel auf den Kopf getroffen. Alles, und damit sind wir wieder bei den Dingen, die einen nicht mehr loslassen oder aus dem SINN gehen,
beginnt mit der Entfaltung unserer Sinne, denn wenn ich nichts wahrnehmen kann, die Welt sozusagen nicht in mich hinein nehmen kann, dann bin ich abgeschnitten und nicht in der Lage zu entdecken, zu forschen,
zu verstehen und zu be-greifen. Apropo VERSTEHEN und BEGREIFEN : Schon vor fast 50 Jahren hat Hugo Kükelhaus entdeckt, dass das Denkhirn sich beim Embryo parallel zu den Extremitäten entwickelt.
Unsere Sprache verrät es ja auch sehr anschaulich: Ver – stehen und Be – greifen, beides Worte für Tätigkeiten und ebenso für kognitive Leistungen –
die Hand oder der Fuß als äußeres Gehirn. Unsere Kinder müssen, um zu begreifen selber die Dinge in die Hand nehmen, selber die Erfahrungen machen und das Erfahrungsmachen kann ich nicht delegieren,
sonst macht ein Anderer die Erfahrung, aber eben nicht ich. Was passiert wenn Kinder selbstständig Erfahrungen machen dürfen? Sie werden aufmerksam für ihre Umwelt, für Menschen, Tiere,
Pflanzen, für Erscheinungen im allgemeinen und stellen Fragen. Fragen die aus echtem Interesse motiviert sind und auf Erkenntnis zielen. Dabei kann eigentlich alles ins Visier des Kindes geraten,
alles ist gleich wichtig und gleich interessant, denn diese Welt, in die die Kinder nach 9 Monaten hinein geboren werden, ist voll von wunderlichen, spannenden und unglaublichen Geheimnissen. Lassen Sie sich infizieren,
es ist ganz egal wo Sie beginnen, jeder Anfang ist der Beste! Sie werden sehen, einmal begonnen werden die Kinder ganz schnell die neuen Möglichkeiten nutzen und alles erforschen, was sich ihnen bietet.
„Der Geist schläft, bis ihn das Auge mit einer Frage weckt!“ Dieser Satz stammt von Loris Malaguzzi, dem Begründer der Reggio Pädagogik. Egal welchen Ansatz ihre Kita favorisiert,
Sie brauchen keinen neuen, Sie brauchen nur den Mut den Kindern in ihrem Wissensdurst und Forscherdrang zu folgen, ihnen liebevoll Betätigungsmöglichkeiten zu erschließen und aufmerksam zu beobachten,
was die Kinder daraus machen. Klar, das kann ziemlich schwer sein, wenn die Kinder ganz anders reagieren als gedacht, aber trösten sie sich, das ist auch bei vielen anderen Aktionen so,
Kinder sind Kinder und keine Automaten, die auf Geldeinwurf Waren ausspucken. Lassen sie sich begeistern und lernen sie mit den Kindern gemeinsam warum der Himmel blau ist, der Schnee kalt oder wie die Löcher in den Käse kommen.
Jede Frage kann der Einstieg in unglaubliche Geschichten sein. Kinder schaffen es vom Blau des Himmels zum Geruch des Sommers, zum Salz des Meeres und wie das wohl dahinein kommt, zum Wetter und von da zur Sonne,
zum Mond den Planeten und den anderen Sternen sich fragend zu bewegen und einen Zusammenhang zu sehen. Das ist die Faszination der Kindheit – nicht lineares Denken sondern vernetztes, kreatives Denken.
Kindliche Gedanken können noch Purzelbäume schlagen und scheinbar völlig abwegige Dinge miteinander in Kontakt bringen. Alles mit Allem verknüpfen zu können und dadurch mit Leichtigkeit,
Freude und bisweilen tiefer Versunkenheit zu lernen, zu begreifen und zu neuen Erkenntnissen zu kommen - als Künstler staune ich oft über diese Fähigkeiten der Kinder und frage mich,
ob unsere Gesellschaft nicht viel mehr davon bräuchte. Woher sollen denn die vielen „kreativen und innovativen Fachkräfte kommen, die Samstags in den großen Zeitungen gesucht werden?
Sie könnten direkt unseren Kitas entwachsen sein, denn hier können die ersten Forschererlebnisse gemacht werden, hier kann etwas über die Welt rausgetüftelt werden,
unsere Kindergärten können Universitäten im besten Sinne dieses Wortes sein: Orte wo aktiv und selbstständig geforscht, getüftelt und gelernt wird und zwar ohne Zwang und ohne Belehrung.
Wo die Kinder „Vorfreude auf sich selbst“ entdecken, wie es Reinhard Kahl in seinem Film „Treibhäuser der Zukunft“ nennt. Wenn das gelingt, nehmen die Kinder etwas kostbares mit , was ihr Leben prägen wird:
Freude am Lernen, Wissensdurst, Flexibilität im Denken und das Selbstbewusstsein, alles lernen zu können, was sie sich ernsthaft vornehmen. Viele Fragezeichen werden vermutlich über Ihrem Kopf schweben,
wenn Sie mir bis hierhin gefolgt sind. Ein gutes Zeichen, denn erstens ist Fragen besser als schnelles Antworten und zweitens zeigt das: Sie sind schon infiziert,
wollen vielleicht selber weiter lernen und Sie fragen sich wie stelle ich das am besten an? Vergessen Sie operrationalisierte Lernziele, beobachten Sie stattdessen die Kinder, schauen Sie,
wofür sie sich interessieren im Freispiel, welche Themen sie umtreiben, welche Materialien sie bevorzugen. Zum Beispiel sehen Sie vielleicht ein Kind,
das ganz versonnen blaue Wasserfarbe in ein Glas mit sauberem Wasser tropfen lässt und zuschaut, wie die Farbe Wirbel bildet und schon haben sie einen Ansatzpunkt.
Bei der nächsten Gelegenheit zeigen Sie den Kindern einen Strudel im Waschbecken, wenn der Stöpsel gezogen wird,
oder Sie stellen eine mit Wasser gefüllte Flasche auf den Kopf und versetzen sie in Drehbewegungen, sodass das Wasser aus der Flasche strudelt und die Kinder für einige Sekunden den tollen Strudel sehen können,
den das Wasser in der Flasche macht Sie können Strudel zeichnen, Spiralen legen, als Aktion im Außenbereich eine Spirale mit allen Kindern aus Sand bauen,
oder vielleicht sich eine Spirale des Archimedes anschaffen, mit der die Kinder Wasser den Berg hoch transportieren können. Oder wenn sie eine Klangschale besitzen,
füllen sie diese mit Wasser und bringen Sie sie zum Schwingen. Es entsteht ein Klangstrudel, der faszinierender Weise durch den Ton der Schale hervorgerufen wird.
Aber auch die wundersame Parallelität zwischen der Erdoberfläche und dem menschlichen Körper, die nämlich beide zu 78 % aus Wasser bestehen,
könnte eine spannende Thematik sein, an die sich anknüpfen liesse, die problemlos zu der Frage nach der Entstehung der Erde, des Regens, des Wetters und vielleicht sogar des Menschen führen kann.
Vor allem aber: gewöhnen Sie sich wieder an, nichts, aber auch gar nichts einfach so hinzunehmen was Ihnen begegnet, staunen Sie wieder, fragen Sie und versuchen Sie Antworten zu finden,
bilden Sie ihre eigenen Hypothesen, Annahmen, vielleicht manchmal auch eher Spekulationen, trauen Sie sich Fragen nicht sofort erschöpfend zu beantworten,
lassen Sie die Kinder auch mal über eine Frage brüten und glauben Sie niemandem, der behauptet, wenn Sie so arbeiten, müssten sie erst mal alles wissen.
Das Gegenteil ist der Fall: entdecken und erleben Sie gemeinsam mit den Kindern. Es ist nicht wichtig alles zu wissen, Sie sollten nur wissen wo die Kinder nachschlagen oder suchen können,
um der Antwort näher zu kommen. Die gemeinsame Suche nach Antworten führt zu weiteren Fragen, zu interessanten Diskussionen und Hypothesen bei den Kindern. Das Sprechen über das Erlebte ist ein wichtiger Teil des Forschens.
Aus solchen Gesprächen resultieren dann neue, spannende Forschungsaufgaben. Sie sehen, so funktioniert der Virus: einmal begonnen kann jede Idee zur Forschungsreise werden.
Aber bitte denken Sie daran: die gezeigten Experimente – auch die in meinem Buch, sind - so schön sie auch sein mögen – nur zum Appetit machen da. Das, was die Kinder im Anschluss an eigenen, weiteren Experimenten daraus machen ist das,
was uns alle weiterführt, was innovativ ist und kreativ das bereits vorhandene Wissen mit dem neuen verbindet. Vertrauen sie den Kindern und schauen Sie aufmerksam hin, wie es weiter geht.
Die Kinder zeigen Ihnen was sich anschließen sollte und welche Themen wichtig werden. Machen Sie sich immer wieder klar, dass wir nur Möglichmacher eines Selbstbildungsprozesses sind und nicht Bestimmer, Drängler oder Besserwisser.
Wie sagt doch ein afrikanisches Sprichwort: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht:“
Tja und plötzlich sind Sie freigestellt von Vorbereitung und die Kinder übernehmen die Leitung.
Zum Schluss möchte ich noch ein Wort zur Elternarbeit, die nicht nur in einem Forscherkindergarten äußerst wichtig ist:
Viele Eltern sind sehr verunsichert ob der Pisaschieflage, wissen aber nicht so genau, was zu tun ist. Laden Sie die Eltern ein und machen sie mit ihnen genau die Versuche und Experimente, die sie mit den Kindern machen oder machen wollen und versuchen Sie die Eltern zu begeistern für ein Forscherprojekt. Vielleicht haben Sie ja wertvolle Elternexperten darunter und können von deren Fähigkeiten profitieren und die Kinder natürlich auch. Ich habe schon viele Elternabende zum Thema Forschung gemacht und ich kann sagen: auch Eltern sind gegen unseren Virus nicht resistent. Im Gegenteil! Gerade die im Kindergarten eher raren Väter werden sich angesprochen fühlen und wer weiss, vielleicht ja sogar ihr altes Schülermikroskop vom Speicher holen und den kleinen Forschern zur Verfügung stellen.
An einer Stelle aber brauchen wir die Unterstützung aller Eltern ganz besonders, nämlich wenn es um Wiederholung geht:
Kinder lernen nämlich immer, auch dann, wenn wir gar nicht wollen, dass sie das tun. Wenn z.B. ein begeistertes Kind nach Hause kommt und der Mutter schon entgegen ruft: „Mama, stell Dir vor, was wir heute gemacht haben…“ kann es einfach sein, dass die Mutter, die vielleicht gleichzeitig noch einen zahnenden Säugling hat, mit dem sie den ganzen Vormittag beim Arzt war, sich – vor lauter Hektik - eine Beule in den neuen Wagen gefahren hat und dann in aller Eile noch einkaufen musste um schließlich rechtzeitig zum Mittagessen zuhause zu sein, völlig entnervt antwortet: „Ok, prima, dass dir der Kindergarten gefällt, aber wasch dir jetzt die Hände, wir essen gleich.“ Sie ist nicht so begeistert, sie hat andere Sorgen. Das passiert vielleicht 3 mal und dann hat dieses Kind etwas gelernt: Mama findet es nicht wichtig, was wir im Kiga machen! Man nennt das auch den heimlichen Lehrplan! Also wird das Interesse an weiteren Experimenten abnehmen.
Sprechen sie mit den Eltern darüber, dass sie ihre Unterstützung brauchen und das selbst in einer stressigen Situation wie oben geschildert, auch die Möglichkeit besteht nicht die Motivation raus zu nehmen: „Toll, dass es wieder so spannend war bei euch, vielleicht kannst du mir ja später etwas zeigen, aber jetzt…. Und später kann dann für Mama noch mal wiederholt werden, was erlebt wurde. Vergessen Sie bitte nicht: Wiederholungslernen ist die wichtigste Lernform gerade bei den Kindergartenkindern und deshalb brauchen Kinder Zeit die Dinge so oft zu tun, bis es genug ist.
Wenn Eltern einmal selber von unserem Virus befallen sind, ist diese kleine Form der Unterstützung überhaupt kein Problem, weil ihnen Bewusst ist, dass sie Bildungspartner sind und die Begeisterung ihrer Kinder teilen können. Wenn Sie dann noch ein „Wochenendbuch“ einführen, wo die Kinder rein schreiben oder malen können was es am Wochenende tolles zu Erforschen gab, laufen viele Eltern zur Hochform auf.
PiT Brüssel
- Künstler - Musiker - Kunstpädagoge - Fortbildungsdozent - Kükelhausexperte-
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